Nachtfahrt

Divara @, Sonntag, 30. April 2017, 10:27 (vor 2576 Tagen)

Der Bus von Euroline fährt in Paris gegen 23 Uhr ab. Der Pariser Busbahnhof hat etwa die Qualität eines Bunkers aus dem Zweiten Weltkrieg. Man wähnt sich in Sofia oder Bukarest. (Er muss jetzt noch schöner sein, denn er wurde inzwischen verwüstet, soweit das noch machbar war). Es war unmöglich in Erfahrung zu bringen, wo der Bus nach Deutschland abfuhr. Niemand sprach Französisch, Englisch oder Deutsch. Personal war nirgendwo zu sehen. Aber er kam schließlich, der Bus mit Aufschrift „Dresden“.

Alle stiegen ein, ich reihte mich in die Schlange, zeigte, wie in der Anweisung stand, mein ausgedrucktes Ticket vor. Der polnische Fahrer, nur des Polnischen mächtig, zeigte mir eine Tafel im Format 10 x 10 mit einer Nummer drauf, und zeigte nach unten. Man musste also im Untergeschoss eine Nummer holen. Dort saß tatsächlich jemand, der das Ticket kontrollierte.

Als ich zurückkam, war ich die Letzte und nur noch ein Platz frei: dritte Reihe neben einer Afrikanerin, sehr jung, in Hoody und Jeans. Auf dem freien Sitz ihre Tasche. Ich bitte sie höflich auf Französisch, die Tasche wegzunehmen. Sie versteht (angeblich) nicht, macht eine Geste, dass sie schlafen wolle. Ich wiederhole die Bitte auf Englisch. Sie reagiert gar nicht.
Ich kann auch anders. In irgendeiner Sprache habe ich ihr mitgeteilt, dass 1-2-3 die Tasche da weg ist, oder sie fliegt durch den Bus. Den Ton versteht sie, die Tasche verschwindet.

Sie braucht zum Schlafen etwa anderthalb Sitze. Ich habe also ständig irgendeinen ihrer Körperteile an meinen. Nach drei Stunden Fahrt reicht es mir. Von da ab bekommt sie genaue Anweisungen, von Handzeichen untermalt, wie und wo sie Beine, Arme, Kopf und Po zu positionieren hat. Sie schaut mich an wie ein todwundgeschossenes Reh.

Rechts von mir sitzt eine Familie aus Albanien. Mama erzählt es laut dem ganzen Bus. Wir Albanien. Lebe Dresden. Sohn gut Deutsch. Mache Abitur.
Der abiturierende Sohn, geschätzte 15 Jahre alt, beginnt eine Studentin zu beflirten, die vor mir sitzt. Sie dürfte mindestens fünf Jahre älter sein als er. Als hinter Liège der Platz neben ihr frei wird, möchte er dort sitzen. Das wird ihr dann zu viel und er kriegt eine Abfuhr. Albanien gibt Ruhe.

Irgendwo will der Fahrer mal eine rauchen. Er hält kurz an, schnappt sich Zigarette und Feuerzeug und will vor die Tür. Ein Nafro steht auf und will auch raus. Der Fahrer schüttelt den Kopf, der Nafro beginnt zu randalieren. Es ist eine Freude zu sehen, wie ein polnischer Hüne, der nur Polnisch spricht, einem Nafro klarmacht, dass er nicht raus darf. Augenrollend. Ich habe dabei kurz Blickkontakt zu ihm, grinse breit und kneife ein Auge zu.

Gegen Morgen gibt es kurz vor der belgischen Grenze eine richtige Pause. Kaum einer will jetzt raus, ich gehe aufs WC. Als ich zurückkomme, begegnet mir die ältere Dame, sie fragt nach dem Weg zum WC. ich erkläre es ihr, sie schaut mich unendlich dankbar an und sagt: Wie schön, dass jemand Französisch spricht!

Aber sie hat sich geirrt. Denn kurz von Köln klingelt das Telefon meiner aufrecht sitzenden Nachbarin. Und ich höre deutlich, wie jemand fragt: Tu es où là? (Wo bist du jetzt?) Sie verkriecht sich im Hoody, als sie antwortet. Aber ihr Anrufer schreit so laut, dass man sein Französisch nicht überhören kann. Am Ende sagt er: Tu me passes les autres? (Gib mir mal die anderen). Afra gibt den Albanern ihr Handy und sie unterhalten sich auf Albanisch. Ein Schlepper muss eben vielsprachig sein.
In Köln steigt das ganze Pack aus und verteilt sich auf andere Busse. Der Rest verläuft unspektakulär.

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Nachtfahrt

Alex @, Montag, 01. Mai 2017, 11:34 (vor 2575 Tagen) @ Divara

Schöner Reisebericht, gerne mehr.
Gilt grundsätzlich.
Und reagiere bitte nicht mehr auf den schweizerischen Vollhonk.
So einen haben selbst die Eidgenossen nicht verdient...:-D
Ich lösche seine Tiraden, sobald ich sie bemerke.

P.S.: Dass Bells historische Plattform von Tourettis Dödel-Monologen so zugespamt wird,
ist schon bedauernswert.

Nachtfahrt

Divara @, Dienstag, 02. Mai 2017, 09:13 (vor 2574 Tagen) @ Alex

Schöner Reisebericht, gerne mehr.
Gilt grundsätzlich.
Und reagiere bitte nicht mehr auf den schweizerischen Vollhonk.
So einen haben selbst die Eidgenossen nicht verdient...:-D
Ich lösche seine Tiraden, sobald ich sie bemerke.

P.S.: Dass Bells historische Plattform von Tourettis Dödel-Monologen so zugespamt wird,
ist schon bedauernswert.

Okay. Leider sieht man vorher nicht mehr, wer gepostet hat. Und dann schreit meine Tastatur immer: "Schreib!".

Die Hinfahrt werde ich auch noch nachliefern. Sie war auch nicht ganz ohne ;-9

Nachtfahrt

Divara @, Dienstag, 02. Mai 2017, 22:56 (vor 2574 Tagen) @ Divara

Die Hinfahrt war etwas ruhiger, aber nicht so ganz ohne Überraschungen. Da es in Münster losging, das noch eine Insel der Seligen ist, ahnte man gar nichts. Nur wenige stiegen ein, man glaubte an eine bequeme Fahrt mit zwei Sitzen für jeden.

Aber in Dortmund, Duisburg, Essen füllte sich der Bus. Als er am Flughafen Köln ankam, blieb nur noch ein letzter Platz frei. Der Fahrer setzte sich, er wollte starten.
Da stürzt eine verzweifelte Gruppe auf die Tür zu: Fünf Leute wedeln mit dem Handy und wollen mit. Der polnische Fahrer weiß nix, kann nix, versteht nix, sagt nur „voll“ und hält seine Liste in die Höhe. Die fünf Leute reden trotzdem alle durcheinander. Langsam wird klar: Euroline kooperiert mit Postbus. Sie haben ihr Ticket auf dem Handy nebst der Nachricht, wenn der Postbus nicht kommt, sollen sie sich an Euroline wenden. Und da der Postbus nicht gekommen war, taten sie das.

Dieser Fahrer war nicht Herr der Lage. Er war klein und schmächtig. Aber ein Blick in den Bus machte den fünf Verzweifelten klar, dass „voll“ nicht gelogen war.

Mit einer Ausnahme. Afra. Diesmal nicht klein, zart und jung, sondern ausgewachsen und dem schmächtigen Polen physisch überlegen. Sie stieg einfach ein, ließ ihre vielen Kilos auf dem Armaturenbrett ruhen und begann zu telefonieren. Dabei konnte ich feststellen, dass sie perfekt und akzentfrei Deutsch, Englisch und Französisch sprach.
Der Fahrer kannte dann doch ein deutsches Wort außer „voll“: Poliss. Afra empört ins Handy. „Tiens, il veut appeler les flics“ (Jetzt will er sogar die Bullen holen).
Er tat es nicht. Warum nicht? Ich vermute, er war nicht der reguläre Fahrer. Doch dazu später. Er saß auf seinem Sitz, starrte auf das Flughafengebäude, und Afra saß unbeteiligt auf dem Armaturenbrett. Hätte der Pole Gewalt angewandt, so wäre nicht klar gewesen, wer als Erstes aus dem Bus geflogen wäre. Er resignierte schließlich, machte eine Handbewegung in Richtung des freien Platzes, und Afra setzte sich bequem. Das Volk im Bus glotzte unbeteiligt. Die Abfahrt verzögerte sich noch einen Moment – gerade lange genug, dass ich einen gelben Postbus ankommen sah, auf den sich die vier Abgewiesenen stürzten wie Gerettete. Afra? Nö, die saß.

Weiter ging’s.
Richtung Aachen. Dort verließen wir die Autobahn, in Richtung plattes Land. Was ich nach einer Weile im Dunklen noch erkennen konnte, war ein Schild „Krematorium“. Dorthin bogen wir ab. Es muss ein großer asphaltierter Platz gewesen sein, stockdunkel, aber unter einer Laterne stand ein höchstens zwanzigjähriger japanischer Student. „Voll“ sagte der Fahrer hilflos. „Ticket“ erwiderte der Japaner – aber das führte zu nichts. Er war den Tränen nahe. Aus irgendeinem Grund ging ich zur Tür und erklärte ihm auf Englisch, was passiert war. Und riet ihm zum Kontakt mit Euroline, die ja den Postbus schicken könnten. Denn dort war garantiert ein Platz frei. Ob es geklappt hat? Ich habe meine Zweifel.

Als ich wieder in den Bus stieg, vermied ich es, Afra anzublicken. Ich hatte Angst etwas zu tun, was man mir später als diskriminierend auslegen würde. Oder körperverletzend. Also lieber gar nicht hinsehen.
Weiter nach Lüttich.

Und irgendwo, gar nicht lange danach, verließen wir wieder die Autobahn. Es wurde finster. Stockfinster. Die Straßen schmal und schmaler. Es war inzwischen späte Nacht, zum Glück kein Gegenverkehr. Irgendwo in der rabenschwarzen Einöde nach vielem Abbiegen links und rechts hielt der Bus auf einem Landsträßchen. Im Licht der Schweinwerfer erkannte ich undeutlich so etwas wie „provisorische Unterkünfte“, entweder Container oder Campingwagen. Die Tür ging auf, der schmächtige Fahrer stieg aus und verschwand im Dunkel der Nacht. Ein Hüne stieg ein und übernahm das Steuer.
Zurück in Richtung Autobahn.
Der Rest war spannungslos.

Nachtfahrt

udosefirothh, Mittwoch, 03. Mai 2017, 19:28 (vor 2573 Tagen) @ Divara

Und dann schreit meine Tastatur immer: "Schreib!".
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Einfach ignorieren, aber... wieso mit einen Bus?

Nachtfahrt

Divara @, Donnerstag, 04. Mai 2017, 07:26 (vor 2573 Tagen) @ udosefirothh

Und dann schreit meine Tastatur immer: "Schreib!".
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Einfach ignorieren, aber... wieso mit einen Bus?

Der Thalys verlangt für online-Buchung zusätzlich zur Mastercard-Nummer einen Code, den die Bank ausstellt. Dieser Code kann nur per Schneckenpost zugestellt werden, und das dauert 10 bis 14 Tage und es gibt keinen Weg, das zu beschleunigen. Deshalb war es zu spät, um den Thalys zu buchen, und ich dachte, ich probier mal den Bus. Das ist billig und man spart sich den Bahnhofswechsel in Paris.

Übrigens habe ich mal Bilder vom Pariser Busbahnhof gesucht. Man findet nur Bilder eines hochmodernen Gebäudes, sauber und ansprechend - dort war ich definitiv nicht. Von meinem Bunker gibt es keine Fotos. Nur von Bussen der Euroline, wo man im Hintergrund etwas von dem Bunker erkennt, in dem ich gelandet bin.

Und die Bushaltestelle in Aachen habe ich bei Google-Maps gefunden. Drumherum nur Friehöfe und ein riesiges Gebäude - wohl das Krematorium!

Nachtfahrt

udosefirothh, Samstag, 06. Mai 2017, 17:55 (vor 2570 Tagen) @ Divara

Also ich wäre da geflogen; trotz des Preises.

Nachtfahrt

Divara @, Dienstag, 09. Mai 2017, 19:06 (vor 2567 Tagen) @ udosefirothh

Also ich wäre da geflogen; trotz des Preises.

Das war keine Geldfrage. Fliegen ist nicht teurer als der Thalys, aber furchtbar umständlich. Man kommt leichter nach tel Aviv als nach Paris, und ich musste noch weiter nach Orléans.
Das heißt:
Mit dem Zug nach Düsseldorf, zwei Stunden vorher dasein, 1 Stunde fliegen, mit der Schnellbahn nach Paris. Dann Metro, einmal umsteigen, zum Bahnhof Orléans-Austerlitz, dann in den Zug. Es hätte 4 Stunden länger gedauert als der Bus.
Und ein Taxi von Charles-de-Gaulle nach Austerlitz hätte mehr gekostet als Flug und Bahn zusammen und länger gedauert als Metro mit Umsteigen...Falls die Taxifahrer an dem Tag nicht gerade wieder gestreikt hätten.

Es sieht einfach im Moment nicht so gut aus, wenn es um Frankreich geht.

Das letzte beeindruckende Event von dort: Bei der Gewerkschaftsparade zum 1. Mai hat ein Citoyen einen Molotow-Cocktail auf einen Polizisten geworfen, der die Parade schützen sollte. Der stand sofort in hellen Flammen und liegt jetzt im Krankenhaus. Auf twitter wurde er auf der offiziellen Seite der Gewerkschaft dann als "Brathähnchen" bezeichnet. Die Gewerkschaft ist nun sehr verärgert, weil man ihr Vorwürfe macht.
Wer schöne Bilder von dem brennenden Polizisten sehen will, braucht nur "crs" unter google-Bilder einzugeben. Da sieht man ihn sofort.

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