Nachtfahrt

Divara @, Dienstag, 02. Mai 2017, 22:56 (vor 2574 Tagen) @ Divara

Die Hinfahrt war etwas ruhiger, aber nicht so ganz ohne Überraschungen. Da es in Münster losging, das noch eine Insel der Seligen ist, ahnte man gar nichts. Nur wenige stiegen ein, man glaubte an eine bequeme Fahrt mit zwei Sitzen für jeden.

Aber in Dortmund, Duisburg, Essen füllte sich der Bus. Als er am Flughafen Köln ankam, blieb nur noch ein letzter Platz frei. Der Fahrer setzte sich, er wollte starten.
Da stürzt eine verzweifelte Gruppe auf die Tür zu: Fünf Leute wedeln mit dem Handy und wollen mit. Der polnische Fahrer weiß nix, kann nix, versteht nix, sagt nur „voll“ und hält seine Liste in die Höhe. Die fünf Leute reden trotzdem alle durcheinander. Langsam wird klar: Euroline kooperiert mit Postbus. Sie haben ihr Ticket auf dem Handy nebst der Nachricht, wenn der Postbus nicht kommt, sollen sie sich an Euroline wenden. Und da der Postbus nicht gekommen war, taten sie das.

Dieser Fahrer war nicht Herr der Lage. Er war klein und schmächtig. Aber ein Blick in den Bus machte den fünf Verzweifelten klar, dass „voll“ nicht gelogen war.

Mit einer Ausnahme. Afra. Diesmal nicht klein, zart und jung, sondern ausgewachsen und dem schmächtigen Polen physisch überlegen. Sie stieg einfach ein, ließ ihre vielen Kilos auf dem Armaturenbrett ruhen und begann zu telefonieren. Dabei konnte ich feststellen, dass sie perfekt und akzentfrei Deutsch, Englisch und Französisch sprach.
Der Fahrer kannte dann doch ein deutsches Wort außer „voll“: Poliss. Afra empört ins Handy. „Tiens, il veut appeler les flics“ (Jetzt will er sogar die Bullen holen).
Er tat es nicht. Warum nicht? Ich vermute, er war nicht der reguläre Fahrer. Doch dazu später. Er saß auf seinem Sitz, starrte auf das Flughafengebäude, und Afra saß unbeteiligt auf dem Armaturenbrett. Hätte der Pole Gewalt angewandt, so wäre nicht klar gewesen, wer als Erstes aus dem Bus geflogen wäre. Er resignierte schließlich, machte eine Handbewegung in Richtung des freien Platzes, und Afra setzte sich bequem. Das Volk im Bus glotzte unbeteiligt. Die Abfahrt verzögerte sich noch einen Moment – gerade lange genug, dass ich einen gelben Postbus ankommen sah, auf den sich die vier Abgewiesenen stürzten wie Gerettete. Afra? Nö, die saß.

Weiter ging’s.
Richtung Aachen. Dort verließen wir die Autobahn, in Richtung plattes Land. Was ich nach einer Weile im Dunklen noch erkennen konnte, war ein Schild „Krematorium“. Dorthin bogen wir ab. Es muss ein großer asphaltierter Platz gewesen sein, stockdunkel, aber unter einer Laterne stand ein höchstens zwanzigjähriger japanischer Student. „Voll“ sagte der Fahrer hilflos. „Ticket“ erwiderte der Japaner – aber das führte zu nichts. Er war den Tränen nahe. Aus irgendeinem Grund ging ich zur Tür und erklärte ihm auf Englisch, was passiert war. Und riet ihm zum Kontakt mit Euroline, die ja den Postbus schicken könnten. Denn dort war garantiert ein Platz frei. Ob es geklappt hat? Ich habe meine Zweifel.

Als ich wieder in den Bus stieg, vermied ich es, Afra anzublicken. Ich hatte Angst etwas zu tun, was man mir später als diskriminierend auslegen würde. Oder körperverletzend. Also lieber gar nicht hinsehen.
Weiter nach Lüttich.

Und irgendwo, gar nicht lange danach, verließen wir wieder die Autobahn. Es wurde finster. Stockfinster. Die Straßen schmal und schmaler. Es war inzwischen späte Nacht, zum Glück kein Gegenverkehr. Irgendwo in der rabenschwarzen Einöde nach vielem Abbiegen links und rechts hielt der Bus auf einem Landsträßchen. Im Licht der Schweinwerfer erkannte ich undeutlich so etwas wie „provisorische Unterkünfte“, entweder Container oder Campingwagen. Die Tür ging auf, der schmächtige Fahrer stieg aus und verschwand im Dunkel der Nacht. Ein Hüne stieg ein und übernahm das Steuer.
Zurück in Richtung Autobahn.
Der Rest war spannungslos.


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