Frankreich - Deutschland / Ideologien - Pathologien

NN, Donnerstag, 17. Juni 2021, 00:12 (vor 1017 Tagen) @ Serious Black
bearbeitet von NN, Donnerstag, 17. Juni 2021, 00:32

Ich hoffe mal sehr, Du behältst unrecht.

Wir hatten das Thema "Antisemitismus/Dschihadismus Frankreich - Deutschland" übrigens schon mehrfach im alten JL-Fred, teils verbunden mit sehr ähnlichen Befürchtungen oder Prognosen.

Zunächst ist dazu zu sagen, dass der islamische Bevölkerungsanteil in Frankreich immer noch deutlich über dem in Deutschland liegt, auch wenn es in Frankreich keine besonders genauen offiziellen Zahlen punkto Religionszugehörigkeit gibt. Damit kann es als wahrscheinlich gelten, dass auch die salafistische/dschihadistische Szene* in Frankreich größer ist als die in Deutschland. Was wiederum (mehr) Anschläge in Frankreich wahrscheinlicher gemacht hat und macht.

Hinzu kommt die ausgeprägtere sozialräumliche Segregation in der Banlieue in Frankreich, die meines Erachtens ein Katalysator / Substrat für Islamismus und/oder Kriminalität (Waffen!) ist. Ich hatte mal von dem Bericht über einen Besuch französischer Stadtsoziologen in Neukölln erzählt. Kurz gefasst: Sie haben sich kaputtgelacht, weil wohl ziemlich alle kulturellen und sozioökonomischen Paramater in der Banlieue mieser sind. Obendrauf kommen die französischen Knäste, bei denen einiges darauf hindeutet, dass sie weniger als deutsche Knäste die Funktion von Besserungsanstalten oder Abkühlbecken erfüllen.

Zusammen genommen lassen die genannten Faktoren die vergleichsweise Häufung von (spezifisch) antisemitischen und/oder dschihadistischen Mordtaten im Frankreich der letzten 15 Jahre als plausibel erscheinen. Damit sind (weitere) entsprechende Attentate in Deutschland mitnichten ausgeschlossen, aber es gibt wenig Grund für die Annahme, dass Deutschland Frankreich in dieser Hinsicht einholt.

Abgesehen davon wissen wir nicht, wie es in Zukunft um die ungute Inspirationskraft des IS oder anderer militanter sunnitischer Gruppierungen bestellt sein wird. Ein weiter Aspekt ist ja, dass die Erfolge des IS (von der logistischen Komponente einmal abgesehen) einige islamistische Attentäter in unterschiedlichen europäischen Staaten extra motiviert haben. Diese Komponente fällt momentan weg, und wir wissen nicht, ob es so bleibt oder nicht.


* Was etwas verkürzt ist. Es gibt im islamistischen Kontext sowie auch beim Rechtsextremismus die wenig beruhigende Tendenz zu Attentäter-Typen, die nicht nur entsprechend ideologisiert sind, sondern auch nach medizinisch-klinischen Maßstäben eine Persönlichkeitsstörung haben und/oder psychotisch sind. Das reicht vom Mörder Sarah Halimis über Anders Breivik und den Orlando Shooter bis hin zum Amokläufer von München und den Attentäter von Hanau. Ich betone das deshalb, weil ich weiß, dass es diese Mischtypen (wie ich sie nenne) unter militanten Islamisten, Rechtsextremisten und auch Linksextremisten in den letzten Jahrzehnten / bis in der Nuller Jahre so gut wie nicht gab.

Gilles Kepel und Marc Sageman (eigentlich klinischer Psychologe) haben das im Zusammenhang mit dem militanten Islamismus der 80er, 90er und Nuller überprüft. Es gab lange keinerlei Hinweise darauf, dass militante Islamisten oder andere politische Gewalttäter im klinischen Sinne gestört sind - eher im Gegenteil. Der Terrorist als solcher erschien nüchternen Beobachtern - abzüglich seiner Radikalisierung/Ideologisierung -, erschreckend normal. Das hat sich im islamistischen Kontext erst mit dem IS geändert, der sozusagen jeden genommen oder über das Internet angestachelt hat.

Auf dem gegebenen Hintergrund (auch mit Blick auf den Rechtsextremismus) kam und kommt es immer wieder zu teilweise leidigen Diskussionen darüber, ob ein Attentäter einfach nur psychisch gestört war/ist oder doch nur ein gewalttätiger Ideologe. Der Punkt ist jedoch, dass sich beides überhaupt nicht ausschließt. Dass jemand mit einer veritablen narzisstischen Persönlichkeitsstörung ein blutiges Fanal setzt, passt wie Arsch auf Eimer und dass jemand, der ohnehin paranoide Gedanken im Kopf hat, bei einer Ideologie mit hochgradig paranoiden Anteilen andockt und zur Tat schreitet, auch. Und soweit ihn seine psychische Beeinträchtigung daran hindert, real life Bestandteil einer einschlägigen extremistischen Szene zu werden und entsprechende Kontakte zu pflegen, kann er heutzutage diesen Teil der Radikalisierung sowie ideologischen Zurüstung / Bestätigung übers Internet substituieren.


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